Um Kopf und Kragen
Der Zeichner, Twitterer und Universalkünstler Jürgen Trautwein
Jürgen Trautwein ist Medienkünstler - auch und unter anderem, das Etikett bezeichnet lediglich eine von zahlreichen Facetten seiner künstlerischen Arbeit. Vielseitigkeit ist ihr hervorstechendes Merkmal. In Personalunion ist Trautwein Maler und Zeichner, Land Art-, Foto- und Installationskünstler. Ja, in seinem umfangreichen Œuvre ist selbst Platz für Kunstformen wie Soundkunst und Performance. Konzeptkünstler ist er zu alledem in einem grundsätzlichen Sinn. Mit diesem breiten Spektrum an künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten unterscheidet sich Trautwein grundlegend vom typischen Medienkünstler, der ausschließlich auf dem Feld elektronischer Medien unterwegs ist und das traditionelle „Handwerk“ des Künstlers nicht beherrscht.
Trautwein hingegen kann, was Ausbildung und künstlerische Praxis angeht, geradezu das klassische Curriculum Artis vorweisen. Der im badischen Bruchsal geborene und aufgewachsene Künstler besuchte nach zwei Jahren an der Siemens-Stammhaus Schule in München die Kunstschule Rödel in Mannheim, ehe er sich an der Hochschule der Künste in Berlin einschrieb und von Mitte der Achtzigerjahre an Malerei studierte. Sein Studium beendete er als Meisterschüler von Bernd Koberling – was, auch wenn Trautwein zunächst figürlich und gegenständlich malte, unter dem Aspekt stimmig erscheint, dass seine Malerei je schon ein starkes Moment von Expressivität aufwies. Seit dem Expressionismus ist Ausdruck in der Kunst auch und zum guten Teil der von Leiden; bei Trautwein trat dieser enge Konnex in der Praxis des Malens selbst zutage, wenn ihm, wie er gesprächsweise beiläufig wortspielerisch einfließen lässt, Malerei bis vor einiger Zeit in einem gegen den Strich gebürsteten Buchstabensinn des englischen Begriffs stets auch so etwas wie Painting war. Mittlerweile hat seine Bildkunst vornehmlich politische Inhalte. Oder sie überschreitet, wie in der Serie „Topography“, die Grenze zur Abstraktion, zeigt Affinität zum Informel. Die „Freiheit der Form“, von der Trautwein im Hinblick auf die Serie spricht, der Einsatz von Aleatorik auch sind wichtige emanzipatorische Schritte in Richtung Befreiung aus der babylonischen Gefangenschaft seiner figürlich-gegenständlichen, eine apolitische Peinture pure zelebrierenden Anfänge.
Liegen Trautweins Wurzeln unter anderem im Minimalismus und Konzeptualismus, so sind seine Werke stets zugleich „manifestations of the immediate, everyday and present experience“, wie seine englischsprachige Homepage formuliert. Als Kunstgattung, die bei ihm am direktesten mit dem Alltag verbunden ist, erweist sich die Zeichnung. Nicht nur die geradezu überbordende Fülle seiner an Tomi Ungerers frechem Strich geschulten, den elsässischen Lehrmeister in Sachen Hintergründigkeit und Sarkasmus bisweilen noch überbietenden Zeichnungen bezeugt diesen Zusammenhang, Beleg dafür, dass die Devise jedes leidenschaftlichen Zeichners - „nulla dies sine linea“ - auch für Trautwein Gültigkeit besitzt. Vielmehr spannen die mitten in die Absurditäten des modernen Daseins hineingreifenden Sujets der Blätter den Bogen zum Alltag inhaltlich. Ein Großteil der Zeichnungen wäre als Ansammlung existentieller Comics über die Condition humaine unter den Bedingungen des globalisierten Kapitalismus nicht schlecht charakterisiert.
Zeichner ist Trautwein auch in einigen Landart-Projekten, ob im Kraichgau oder im amerikanischen Westen. In „On Old Path – Shoshone Trail, Furnace creek, Death Valley“ (2014) übersetzte er alte Indianerpfade in der Landschaft in kurvenreiche Linien aus weißen, aneinander gereihten DIN A4-Blättern; erwähnenswert in diesem Zusammenhang auch seine Installationen mit Zeichenpapier, die er beispielsweise in seinem Atelier in San Francisco realisierte, wo er seit Jahrzehnten im Wechsel mit Deutschland - dem Geburtsort Bruchsal - lebt. Zeichner ist Trautwein nicht zuletzt auch in seinem Netzkunst-Projekt „Tweetopia“, das er 2016 in einer raumspezifischen Multimediainstallation in der Freiburger Galerie Marek Kralewski erstmals in Deutschland präsentierte. Es ist Teil des vor eineinhalb Jahrzehnten begonnenen, in den unterschiedlichsten Medien sich realisierenden Langzeitprojekts „NIESATT“ (dessen anagrammatisch an ‚Dasein’ anklingender Titel die existentielle, aufs wirkliche Leben zielende Dimension seiner Kunst akzentuiert). Seit 2009 arbeitet er an „Tweetopia“. Grundlage und Ausgangspunkt der Freiburger Installation war sein im selben Jahr begonnener visueller Twitter-Blog @jtwinedotcom - visuell, weil in dem „abstrakten Zeichenprojekt“ (Trautwein) grafische an die Stelle sprachlicher Botschaften treten. Die maximal 140 Zeichen für ein Tweet sind bei Trautwein keine Buchstaben oder Satzzeichen, sondern dem ASC-II-Code entlehnte schwarze Rechtecke und weiße Leerzeichen.
Mit Hilfe des binären Codes lässt sich eine gegen Unendlich strebende Vielfalt grafischer Möglichkeiten generieren. Analog zur Devise des Zeichners stellt Trautwein täglich meist mehrere Tweets ins Netz. Es sind, selbst wenn man sich zeitlich auf die letzten Monate beschränkt, ganz unterschiedliche, zum nicht unwesentlichen Teil animierte grafische Kompositionen. In einer Reihe von Tweets dieses Zeitraums herrscht strenge Achsensymmetrie. Da queren beispielsweise weiße „Linien“ aus aneinander gefügten Leerzeichen den ansonsten schwarzen, quadratischen, man ist versucht zu sagen: Bildraum in vertikaler Richtung symmetrisch zur Mittelachse (6. Mai 2016 ff.). Abweichend davon erscheint in einem Tweet die einzige weiße, vertikale „Linie“ von der Mitte nach rechts versetzt (27. Mai 2016). Häufig bearbeitet und animiert Trautwein die Tweets mit speziellen Programmen. Einer vom 11. Mai lässt drei oder vier „Grafiken“ in schnellem Wechsel aufeinander folgen; ein anderer vom selben Tag zeigt auch farbige Elemente; ein weiterer zwei Tage später entfaltet ein Blitzlichtgewitter aus mehreren rasch aufeinander folgenden Kompositionen. Am 14. Mai wechseln sich in rascher Folge ein vertikaler und ein horizontaler schwarzer Balken auf weißem Grund ab, was Reminiszenzen an einleitende Sequenzen früher Filme wachruft. Im Ganzen erscheint der Blog als faszinierendes Glasperlenspiel grafischer Möglichkeiten, dessen unbewusster „Quellcode“ womöglich Malewitschs schwarzes Quadrat ist, an dem sich einzelne Tweets mit dominierender schwarzer Bildfläche zu orientieren scheinen (vgl. etwa einzelne Stücke vom 30.4. bis 6.5.2016). Ohne Berührungsängste, ja mit Wohlgefallen nimmt Trautwein diese Überlegung oder auch den Hinweis auf die optische Nähe mancher Tweet zur konkreten Kunst zur Kenntnis.
Die Ausstellung in Freiburg präsentierte Computerinstallationen und digitale Projektionen, Screenshots und eine Tweets-Slideshow; dazu Fotoaufnahmen von durch Störprogramme transformierten, so genannten glitched Tweets sowie Wandinstallationen mit schwarzen und weißen DIN A4-Blättern als analoge Übersetzung einzelner Tweets. In einer interaktiven „Tweetopia“-Animation ließ Trautwein eine zeitliche Abfolge formalisierter Tweets in unterschiedlichen Geschwindigkeiten vor dem Auge des Betrachter vorüberziehen - eine Meditation über Zeit (und also Vergänglichkeit), angesiedelt irgendwo zwischen On Kawara und Hanne Darboven. Als sich fortschreibende Geschichte wohnt „Tweetopia“ selbst eine zeitliche Dimension inne.
Ist Trautweins Micro-Blog ein Hymnus auf die unbegrenzten Möglichkeiten digitaler Kommunikation? Eher nicht. Das Projekt versteht sich auch als kritische Reflexion über die endlosen Daten- und Nachrichtenströme in Social Media wie auch in klassischen Medien, deren unablässiges Rauschen jedweden Inhalt, noch bevor er im gefräßigen Maul des Schwarzen Lochs digitaler Kommunikation verschwindet, entwertet. Trautwein erkennt durchaus die emanzipatorischen Möglichkeiten eines relativ jungen Mediums wie Twitter; doch er ist nicht blind für seine Risiken. Die rebellierende Jugend des arabischen Frühlings traf ihre Absprachen auch über Twitter, doch Trautwein weiß, dass einer der passioniertesten Twitterer überhaupt Donald Trumpp ist. Als neutrale Plattform ist das Medium für jedwede politische Absicht instrumentalisierbar.
Und gleich anderen sozialen Netzwerken im Internet birgt es Suchtpotential. Wir kennen Blätter von Jürgen Trautweins Hand, auf denen gesichtslose humanoide Gestalten mit aufgesetzten Kopfhörern in Schachteln sitzend mit Laptops hantieren und endlos Nullen und Einsen produzieren. In „pandorian tango“ – so der Titel einer Zeichnungsserie – ist die Büchse der Pandora zum traurigen Refugium vor der Realität mutiert. Eingekastelt in Boxes leben die virtuell verkümmerten Hominiden am wirklichen, analogen Leben vorbei. In der Serie „f…damachine“ geht letztere, die Maschine in Gestalt von Laptop oder Desktop, gar zum Angriff über. Aus einem Laptop beißt ein Hund nach dem Nerd; auf einem weiteren Blatt schnappt aus dem Monitor heraus eine robbenartige Bestie zu und hat den Schädel des Users mit dem furchterregenden Maul fest umklammert. Es geht, ganz offenbar, um Kopf und Kragen.
Hans-Dieter Fronz